Rückstellungsbilanzierung im Fokus: 5 Fragen an Prof. Dr. Zwirner

Rückstellungen gehören nach wie vor zu den bedeutendsten Bilanzposten, doch Ansatz und Bewertung sind in den letzten Jahren immer komplizierter geworden. Im Interview spricht Prof. Dr. Zwirner, Mitautor der Buchs „Rückstellungen in der Bilanzierungspraxis“, über die wichtigsten Anwenderprobleme, aber auch über Einflussmöglichkeiten und Chancen der Bilanzierenden. Außerdem verrät er, wo er gesetzgeberischen Änderungsbedarf sieht.

 

Die Welt der Bilanzierung ist gerade im Bereich der Rückstellungen höchst komplex. Mit welchen Fragestellungen kommen Ihre Mandanten am häufigsten auf Sie zu?

Die Unsicherheiten aus der Praxis drehen sich immer wieder um die Frage, ob eine Rückstellung angesetzt werden kann bzw. muss. Hierbei sind an den Ansatz im Handelsrecht und im Steuerrecht unterschiedliche Anforderungen zu stellen. Einerseits verbietet das Steuerrecht den Ansatz bestimmter Rückstellungen, die das HGB fordert, z. B. bei Drohverlustrückstellungen. Andererseits führt das Vorsichtsprinzip im Handelsrecht zu einem früheren Ansatz einer Rückstellung als im Steuerrecht. Im Steuerrecht sind die Anforderungen an die Wahrscheinlichkeit der Inanspruchnahme strenger, das heißt, die entsprechenden Wahrscheinlichkeiten liegen im Steuerrecht bisweilen deutlich über der möglichen Inanspruchnahme im Handelsrecht. Im Fokus der Praxisfragen stehen demzufolge meist die Ansatzpflicht im Handelsrecht und die steuerlichen Abweichungen und Anpassungen, gerade auch auf Basis der aktuellen und umfassenden Rechtsprechung der Finanzgerichte und des BFH.

 

Was macht Rückstellungen zu einem so bedeutenden Passivposten? 

Viele Mandanten verstehen Rückstellungen – sicher in Teilen zu Recht – als ein wichtiges Mittel der Bilanzpolitik. Aber das HGB kennt grundsätzlich kein Wahlrecht zum Ansatz einer Rückstellung. Vielmehr gibt es eine Ansatzpflicht, wenn die Voraussetzungen erfüllt sind. Aber auch wenn es kein gesetzlich kodifiziertes Wahlrecht gibt, so sind Rückstellungen faktisch der Bilanzpolitik zugänglich; denn es geht dann um die Beurteilung und Einschätzung von Sachverhalten. Zudem kann der Bilanzierende bestimmte Bilanzierungsfolgen auch durch eigenes Handeln steuern, z. B. wenn bestimmte Entscheidungen noch vor dem Bilanzstichtag getroffen oder Maßnahmen eingeleitet werden. Der Ansatz von Rückstellungen stellt daher ein wichtiges Instrument zur Innenfinanzierung des Unternehmens dar, weil durch den Ansatz von Rückstellungen das Ausschüttungsvolumen reduziert werden und bei steuerlicher Zulässigkeit auch Steuern gespart werden können.

 

Mit der Abschaffung der umgekehrten Maßgeblichkeit durch das BilMoG sind die Möglichkeiten einer unabhängigen Steuerbilanzpolitik gestiegen. Welche Chancen sehen Sie diesbezüglich im Hinblick auf die Rückstellungen? 

Das Steuerrecht ist sehr viel strenger, was den Ansatz von Rückstellungen angeht. Es gibt nur wenige Bereiche, in denen nur rein steuerlich Wahlrechte bestehen. Daher vollzieht sich die Bilanzpolitik im Zusammenhang mit Rückstellungen primär auf Ebene des Jahresabschlusses; dann gilt es zu prüfen, ob die Rückstellung auch steuerlich anzusetzen ist. Im Einzelfall sind aber immer wieder Ansatzpunkte einer isolierten steuerlichen Betrachtung von steuerlich zulässigen Rückstellungen denkbar. Es gibt also Chancen, sie sind aber – anders als in anderen Bereichen einer eigenständigen Steuerbilanzpolitik – im Hinblick auf Rückstellungen vergleichsweise eingeschränkt. Ein Beispiel für die Möglichkeit einer eigenständigen Steuerbilanzpolitik ist die Passivierung von sog. Altzusagen im Zusammenhang mit Pensionsrückstellungen.

 

Bei Pensionsrückstellungen kann unter anderem das verwendete Endalter einen wesentlichen Einfluss auf die Höhe der Rückstellung haben. Was gilt es hier zu beachten?

Das bei der Berechnung der steuerlichen Rückstellungen für Pensionsverpflichtungen verwendete Endalter kann einen wesentlichen Einfluss auf die Höhe der Rückstellung für Leistungsanwärter haben. Je niedriger das Endalter angesetzt wird, desto höher ist bei Leistungsanwärtern i. d. R. die Pensionsrückstellung. Aus diesem Grund ist die Verwendung eines niedrigen Endalters durch die Einkommensteuerrichtlinien (R 6a Abs. 11 EStR) eingeschränkt. Die vorgenannte Richtlinienstelle sieht zwei Wahlrechte vor: Der Steuerpflichtige kann für alle oder für einzelne Pensionsverpflichtungen von einem höheren Pensionsalter ausgehen, sofern mit einer Beschäftigung des Arbeitnehmers bis zu diesem Alter gerechnet werden kann (erstes Wahlrecht). Zudem: Bei der Ermittlung des Teilwertes der Pensionsanwartschaft kann anstelle des vertraglichen Pensionsalters für alle oder für einzelne Pensionsverpflichtungen als Zeitpunkt des Eintritts des Versorgungsfalles der Zeitpunkt der frühestmöglichen Inanspruchnahme der vorzeitigen Altersrente aus der gesetzlichen Rentenversicherung angenommen werden (zweites Wahlrecht). Während der BFH mit einem Urteil aus 2019 die Ansicht vertreten hat, dass bei der Bewertung von Direktzusagen mit unterschiedlichen vertraglich vereinbarten Pensionierungsaltern ein einheitliches Endalter angesetzt werden müsse, wenn das zweite Wahlrecht angewandt wird, führt das BMF-Schreiben vom 2.5.2022 aus, dass kein einheitliches Endalter mehr anzusetzen ist: „Das zweite Wahlrecht kann für unterschiedliche Pensionszusagen des Berechtigten unabhängig voneinander ausgeübt werden.“

 

Angesichts des gestiegenen Zinsniveaus lag im Jahr 2024 der für die Bewertung von Pensionsrückstellungen maßgebliche Zehn-Jahres-Durchschnittszinssatz erstmals unterhalb des Sieben-Jahres-Durchschnittszinssatzes. Sehen Sie hier gesetzgeberischen Handlungsbedarf?

Ja, hier sehe ich dringenden Handlungsbedarf. Auch das IDW hat bereits mehrfach einen Reformbedarf adressiert. Im Jahr 2016 wurde der Zinssatz für die Bewertung von Pensionsrückstellungen abweichend von dem üblichen Zinssatz für die Bewertung langfristiger Rückstellungen geändert. Der Hintergrund damals war, dass der Zehn-Jahres-Durchschnittszinssatz angesichts des damals anhaltenden Niedrigzinsniveaus höher war und sich insofern handelsrechtlich geringere Rückstellungswerte ergeben haben als bei Anwendung des niedrigeren Sieben-Jahres-Durchschnittszinssatzes. Der Unterschiedsbetrag aus beiden Bewertungen war aber ausschüttungsgesperrt. Mittlerweile hat sich das Zinsumfeld seit 2022 aber deutlich verändert. Die Zinsen sind gestiegen und seit Mitte des Jahres 2024 liegt der Sieben-Jahres-Durchschnittszinssatz über dem Zehn-Jahres-Durchschnittszinssatz. Die mit der Neuerung im Jahr 2016 verbundene Erleichterung ist also weggefallen. Vielmehr stellt heute die Verwendung des Zehn-Jahres-Durchschnittszinssatzes für die Bilanzierenden eine Last dar; denn dieser Zinssatz ist niedriger und führt damit zu höheren Pensionsrückstellungen als bei Anwendung des Sieben-Jahres-Durchschnittszinssatzes. Wenn folglich die mit der Einführung eines eigenständigen Durchschnittszinssatzes verbundene Erleichterung und Entlastung der Unternehmen weggefallen ist bzw. sich sogar nachteilig entwickelt hat, ist der Gesetzgeber dringend aufgerufen zu handeln.

 

Der Autor

Prof. Dr. Christian Zwirner ist Partner sowie Wirtschaftsprüfer und Steuerberater bei der Dr. Kleeberg & Partner GmbH WPG StBG in München. Seine beruflichen Schwerpunkte liegen in der Prüfung von Jahres- und Konzernabschlüssen nach HGB, aktienrechtlichen Sonderprüfungen, nationaler und internationaler Rechnungslegung sowie in der Beratung zu IFRS-Umstellungen und Sonderprojekten. Er ist außerdem in der steuerlichen Beratung, Unternehmensbewertung, Transaktionsberatung sowie in Fragen der Compliance, des Risikomanagements, des internen Kontrollsystems und der Internen Revision tätig. Seit 2024 ist er zudem als Sustainability Auditor (IDW) aktiv.

Prof. Zwirner veröffentlicht regelmäßig in Fachzeitschriften, Kommentaren und Herausgeberwerken, insbesondere zu den Themen Rechnungslegung, Abschlussprüfung, Bilanzrecht und Unternehmensbewertung. Er ist Herausgeber und Schriftleiter mehrerer Fachzeitschriften, darunter NWB Nachhaltigkeit und Reporting (NaRp), BOARD – Zeitschrift für Aufsichtsräte und BC – Zeitschrift für Bilanzierung, Rechnungswesen und Controlling.

In der Lehre ist er seit 2015 Honorarprofessor an der Universität Ulm und unterrichtet seit mehreren Jahren an der Ludwig-Maximilians-Universität München, der Universität Regensburg sowie der Bundesfinanzakademie. Darüber hinaus ist er als Referent für das IDW und bei zahlreichen Fachveranstaltungen aktiv.

 

Literaturempfehlung

Kein anderer Bilanzposten ist so komplex und vielschichtig wie die Rückstellungen. Von den Grundlagen der Ansatz- und Bewertungsregeln nach Handelsrecht bis hin zu bilanzpolitischen und steuerlichen Herausforderungen – dieses Buch deckt alles ab. Die Autoren bieten eine kompakte und aktuelle Darstellung, die die neuesten gesetzlichen Neuerungen sowie die aktuelle Rechtsprechung und Finanzverwaltung berücksichtigt.

Das Buch richtet sich an Mitarbeiter im Rechnungswesen und in angrenzenden Bereichen sowie an Berater, die mit der Bilanzierung von Rückstellungen konfrontiert werden. Es eignet sich überdies als praxisnahes Lehrbuch für Studierende, welche sich schwerpunktmäßig mit dem Steuerrecht, der Bilanzierung und/oder Prüfung beschäftigen.

 

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