70 Jahre Grundgesetz: „Ein wundersames und kluges Dokument“

Reflexionen über den Rechtsmarkt - Eine Kolumne zum Thema „70 Jahre Grundgesetz“ von Markus Hartung.

 

Nach 70 Jahren kennt man sich, da kann einen eigentlich nichts mehr überraschen. Denkt man. Und dann passiert es doch, pünktlich zum 70. Geburtstag des Grundgesetzes flammt eine Debatte über Art. 15 GG auf, obwohl es den schon ewig gibt, hatte nur keiner auf dem Schirm, manche hielten das für Fake News.

 

Das Grundgesetz erweist sich oft als ein wundersames und kluges Dokument mit Regelungen, die erst zum Vorschein kommen, wenn man sie braucht; auch mit solchen, die man erst sieht, wenn einen das BVerfG mit der Nase darauf stößt, etwa das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung. Für viele scheint das Grundgesetz eher „dieses Grundgesetz“ zu sein, so wie das Internet für viele Menschen „dieses Internet“ und darüber hinaus Neuland ist.

 

Wir Rechtsanwälte und Rechtsanwältinnen haben auch keine völlig unproblematische Beziehung zum Grundgesetz, soweit es um unser Berufsbild geht. Für viele scheint etwa ein nirgendwo niedergeschriebenes, gleichwohl verbindliches Berufsbild völlig in Ordnung zu sein. Fast so, als seien uns die Beschränkungen der Freiheit lieber als die Freiheit. Viele antworten auf die Frage, was ein Anwalt denn im Kern sei, mit „Organ der Rechtspflege“. Das ist natürlich kein Beruf, Art. 12 GG wäre also gar nicht anwendbar. Ein unternehmerischer Anwalt stößt schon bei der Frage, wie er seine Kanzlei strukturieren und mit wem er seinen Beruf ausüben will, schnell an Grenzen, und erst recht, wenn es um Leistung und Gegenleistung, also das gesamte Honorarwesen geht. Die Anwaltschaft lebt mit vielerlei Beschränkungen, deren Existenz mit Glaubenssätzen gerechtfertigt wird. Das ist schade, denn es gibt eine Reihe von Beschränkungen, die Gold wert sind – oder es sein könnten, etwa die core values. Aber auch die kann man nicht nur behaupten, man muss sie sich immer wieder ansehen.

 

Wenn es zum Konflikt zwischen der Freiheit und dem Berufsrecht kommt, stehen die Anwaltsverbände eher auf der Seite des Berufsrechts, das BVerfG eher auf der Seite der Freiheit. Für das Grundgesetz in der Karlsruher Lesart sind Anwälte auch freiberufliche Unternehmer, deren Freiheiten nur unter bestimmten und engen Voraussetzungen eingeschränkt werden dürfen. Mit „Bastille“ hat alles angefangen, zuletzt war es „Horn“, aber deshalb darf noch lange nicht jeder machen, was er will, siehe „Schockwerbung“.

 

Art. 12 GG und die Anwaltschaft ist noch längst nicht ausgereizt, im Gegenteil. Gerade gibt es einen Gesetzentwurf der FDP zur Reform des RDG im Zusammenhang mit Legal Tech. Das ist eine etwas kurzatmige Zusammenfassung, aber es geht darum, wie die unternehmerischen Freiheiten von Rechtsanwälten und nichtanwaltlichen Rechtsdienstleistern und ihre Konkurrenz zueinander austariert werden, und damit geht es auch um die Sicherung des Zugangs zum Recht. Das bestehende System ist unter Druck geraten. Antworten gibt es noch nicht. Aber dieses Grundgesetz wird uns bei der Suche danach helfen.

 

Hinweis: Der Beitrag ist in der NJW 22/2019 erschienen.

Der Autor

Markus Hartung

Rechtsanwalt und Mediator in Berlin, Senior Fellow am Bucerius Center on the Legal Profession und Vorsitzender des Berufsrechtsausschusses des DAV

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