Einige Überlegungen zur Berufung im Zivilrecht

Von Norman Doukoff, M.A., Vorsitzender Richter am Oberlandesgericht a.D.

 

Das Recht der Berufung im Zivilrecht ist eine Spezialmaterie mit in erheblichem Umfang eigenen Regeln, für die es aber leider keine spezielle Ausbildung für Rechtsanwälte (und Richter) gibt – weder während des Studiums und des Referendariats noch berufsbegleitend.

Die mit der früheren Singularzulassung beim Oberlandesgericht oder der fünfjährigen Wartefrist für die Zulassung zum Oberlandesgericht verbundene Spezialisierung und vom Bundesgerichtshof wiederholt betonte Qualitätssicherung fielen wirtschaftsliberalen Reformen zum Opfer. Rechtsanwälte wie Richter sind deshalb beim Thema „Berufung im Zivilrecht“ auf die drei gegenwärtig erhältlichen aktuellen Handbücher und im Übrigen auf learning by doing verwiesen. Hat man als Anwalt nicht die Möglichkeit, in einer größeren Kanzlei in einem Team zu arbeiten und über einen längeren Zeitraum Erfahrungen zu sammeln, wird man anfangs viel Lehrgeld zahlen müssen.

Im Folgenden sollen insbesondere für den erstmals forensisch tätigen Anwalt einige Überlegungen und Hinweise zu den Eigenheiten des Berufungsverfahrens in Zivilsachen gegeben werden.

 

I. Grundsätzlich gilt: Höchste Sorgfalt in der ersten Instanz

Für den Anwalt, der ein zivilrechtliches Mandat annimmt, muss klar sein, dass ein Zivilprozess in der ersten Instanz und nicht erst in der Berufungsinstanz geführt wird. Der VII. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat dies 2009 nachdrücklich in Erinnerung gerufen: „Von den Parteien und ihren Prozessbevollmächtigten wird erwartet, dass sie mit aller Sorgfalt in der ersten Instanz vortragen, um so die Konzentration der Tatsachenfeststellungen in der ersten Instanz zu verwirklichen“.

Dies bedeutet: überlegter und sorgfältiger Sachvortrag, detaillierte Rechtsausführungen und aktive Teilnahme an der mündlichen Verhandlung, einschließlich einer etwaigen Beweisaufnahme. Ganz besondere Aufmerksamkeit ist in diesem Zusammenhang Entscheidungen während des laufenden Verfahrens zu widmen, die der sofortigen Beschwerde unterliegen und damit nach § 512 ZPO nicht mit der Berufung anfechtbar sind, wie etwa im Fall der Zurückweisung eines Antrags auf Ablehnung eines Richters oder Sachverständigen wegen Besorgnis der Befangenheit, welche nach § 46 Abs. 2 ZPO bzw. § 406 Abs. 5 ZPO mittels der sofortigen Beschwerde angefochten werden kann und damit einer berufungsgerichtlichen Kontrolle entzogen ist.

 

II. Ganz entscheidend: Ein Berufungsverfahren ist kein Spaziergang

Bereits im Vorfeld eines etwaigen zivilrechtlichen Berufungsverfahrens muss weiter Folgendes klar sein:

 

  1. Die Berufung im Zivilrecht dient seit der ZPO-Reform 2002, wie sich aus § 520 Abs. 3 ZPO ergibt, der Überprüfung des Ersturteils und gegebenenfalls des zugrundeliegenden Verfahrens auf entscheidungserhebliche Fehler des Erstgerichts und nicht mehr, wie es die ZPO in ihrer ursprünglichen Fassung von 1877 vorsah, der Neuauflage des Prozesses.

    Im allgemeinen Zivilprozess ist neuer Tatsachenvortrag in zweiter Instanz seit Inkrafttreten des ZPO-Reformgesetzes nur noch im Rahmen des § 531 Abs. 2 S. 1 ZPO möglich (etwa, wenn das Erstgericht rechtliche Hinweise nicht erteilt und dadurch Sachvortrag verhindert hat oder wenn nach Schluss der erstinstanzlichen mündlichen Verhandlung neue Beweismittel aufgefunden werden oder gar erst entstehen).

  2. Eine Berufung im Zivilrecht, will sie Aussicht auf Erfolg haben, darf nicht auf dem mehr oder weniger begründeten Gefühl beruhen, dass das Ersturteil irgendwie falsch ist. Es genügt – abgesehen von den sog. absoluten Berufungsgründen – nicht, dass das erstinstanzliche Verfahren und/oder das Ersturteil Fehler aufweisen: Sie müssen sich, wie der grundsätzlich auch im Berufungsrecht geltende § 561 ZPO zeigt, auch im Ergebnis auswirken. Ein Beispiel soll dies verdeutlichen: Der Beklagte legt Berufung ein und rügt, das Erstgericht habe dem Kläger mehr zugesprochen als dieser beantragt habe. Natürlich liegt darin ein Verfahrensfehler (Verstoß gegen § 308 Abs. 1 ZPO), die Berufung ist aber gleichwohl von Anfang an zum Scheitern verurteilt, weil sich der Kläger diese Überschreitung in dem nahezu unausweichlich folgenden Berufungszurückweisungsantrag mit der Folge zu eigen machen wird, dass der Fehler geheilt wird, wozu der Kläger übrigens nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung nicht einmal eine Anschlussberufung einlegen muss.

    Dieser Unterschied zwischen einem Fehler und einem berufungsrechtlich relevanten Fehler muss dem Mandanten gegebenenfalls klar vermittelt werden. Eine Berufungseinlegung nach dem Motto «Schaun wir mal, dann sehen wir schon» ist vorzüglich geeignet, einen Haftungsfall zu begründen.

  3. Die Meinung mancher Mandanten, man könne sein Glück ja noch in der Revisionsinstanz oder gar vor dem Bundesverfassungsgericht suchen („da gehen wir nach Karlsruhe“), ist weitgehend Wunschdenken. So betrug die Erfolgsquote der Nichtzulassungsbeschwerden beim Bundesgerichtshof im Jahr 2022 nur 5,58 % und auch bei den zugelassenen Revisionen betrug die Erfolgsquote nur 63,64 %. Noch geringer sind die Erfolgsaussichten einer Verfassungsbeschwerde – in den Jahren 2012–2021 waren durchschnittlich nur 1,85 % aller Verfassungsbeschwerden zum Bundesverfassungsgericht erfolgreich.

    Auch dies sollte dem Mandanten klargemacht werden, um ihm zu verdeutlichen, dass seine Mitarbeit und seine uneingeschränkte Offenheit gegenüber seinem Anwalt im Berufungsverfahren erforderlich sind und es fast nie eine dritte Chance gibt.

  4. Dem Anwalt muss ferner bewusst sein, dass er es anders als meist in der 1. Instanz in der Regel mit vollbesetzten Spruchkörpern zu tun hat, die von der Idee her und überwiegend auch in der Wirklichkeit jedenfalls teilweise mit erfahrenen Richtern besetzt und bei den Oberlandesgerichten darüber hinaus auch meist in der jeweiligen Rechtsmaterie spezialisiert sind. Daraus folgt zweierlei:

    Erstens, dass eine eigene Spezialisierung unumgänglich ist, und zwar im Berufungsrecht einschließlich der kommunikationstheoretischen Besonderheiten des Berufungsverfahrens und im jeweiligen materiellen Recht.

    Zweitens, dass jede Möglichkeit zu nutzen ist, das durch die Abschaffung der Singularzulassung bei den Oberlandesgerichten verloren gegangene Vier-Augen-Prinzip informell zu ersetzen, und zwar auch in kleinen Kanzleien. Ein Kollege oder eine Kollegin in der Kanzlei sollte gebeten werden, das Ersturteil und die Berufungsbegründung kritisch durchzulesen.

    Nur so wird das strukturelle Ungleichgewicht zwischen Berufungsgericht und Berufungsanwalt aufgehoben.

 

III. Unerlässlich: Klare Kommunikation mit der Mandantschaft

Auch im zivilrechtlichen Berufungsverfahren ist eine offene, umfassende und präzise Kommunikation mit dem Mandanten von großer Bedeutung.

Der Anwalt ist, wie der Bundesgerichtshof in seiner jüngsten zusammenfassenden Entscheidung vom 16.9.2021 (NJW 2021, 3324) dargelegt hat, zu einer umfassenden Aufklärung und Belehrung des Mandanten über alle denkbaren Aspekte des beabsichtigten oder schon laufenden zivilrechtlichen Berufungsverfahrens verpflichtet, wobei diese Beratungspflicht, wie der Bundesgerichtshof bereits früher entschieden hat, auch in Fällen besteht, wo der Mandant etwa durch eine Rechtsabteilung oder Syndikusanwalt juristisch beraten oder gar selbst Rechtsanwalt ist.

Kommunikation erschöpft sich aber nie in der bloßen Vermittlung von Sachinformationen, sondern sie hat eine mindestens gleich wichtige Metaebene, die von Juristen häufig übersehen oder geringgeschätzt wird. Zwei auf einer solchen weiteren Kommunikationsebene liegende Fälle notwendiger Unterrichtung des Mandanten sind vorstehend unter II 2, 3 dargestellt worden. Problembewusstsein hierfür und Problemlösung lassen sich nur durch eingehendes Studium einschlägiger Literatur und Besuch von Fortbildungskursen erwerben, welche erfreulicherweise zahlreich angeboten werden. Die im Jurastudium unter Umständen erworbenen einschlägigen sog. Schlüsselqualifikationen (vgl. § 5a Abs. 3 S. 1 DRiG) können eine gute Grundlage sein, es fehlt ihnen aber die Einbindung der Erkenntnisse und Fähigkeiten in die aktuelle Lebenswirklichkeit eines Anwalts, der zwischen Mandant und Gericht steht.

 

Das Handbuch für die Berufung im Zivilrecht

Das Beck'sche Mandatshandbuch Zivilrechtliche Berufung bietet der Rechtsanwaltschaft das nötige juristische und faktische Handwerkzeug des Berufungsrechts in Zivilsachen. Das Buch behandelt die Vorbereitung, Einlegung und Begründung der Berufung sowie die Verteidigung des Berufungsbeklagten, die Berufungsverhandlung und andere Einzelheiten. Besonders nützlich ist ein Belegapparat, der die eigenverantwortliche, differenzierte Argumentation gegenüber Gericht und Gegnerseite ermöglicht. Außerdem sind wertvolle Formulierungsvorschläge, Übersichten und Tipps enthalten.

 

Der Autor

Norman Doukoff, M.A., Vorsitzender Richter am Oberlandesgericht a.D.,

begann seinen beruflichen Werdegang im Jahr 1970 mit dem Studium der Rechtswissenschaft, Philosophie und Alten Geschichte, das er im Jahr 1976 inklusive des ersten Staatsexamens erfolgreich abschloss. Im Jahr 1978 erlangte Doukoff den Magister Artium in Philosophie und Alter Geschichte. Im Anschluss daran erfolgte 1979 das zweite Staatsexamen.

Von 1979 bis 1985 war Doukoff als Staatsanwalt tätig, ab 1985 begann die berufliche Laufbahn als Richter am Amtsgericht München, wo er bis 1994 tätig war. In dieser Zeit hatte Doukoff außerdem die Gelegenheit, seine Expertise im Zivilprozessrecht als nebenamtlicher Dozent an der Bayerischen Beamtenfachhochschule für Rechtspflege (jetzt Fachhochschule für öffentliche Verwaltung und Rechtspflege) in Starnberg zu teilen (1992/93).

1994 wechselte Doukoff in seiner Position als Richter ans Oberlandesgericht München, wo er ab 2006 bis zu seiner Pensionierung im Jahr 2016 Vorsitzender Richter war.

Doukoff führte während seiner Laufbahn zahlreiche internationale Fortbildungen durch, darunter in der Mongolei (1998), der Volksrepublik China (1999), Russland (2006) und Lettland (2009). Darüber hinaus nutzte er seine Expertise, um ausländische Regierungen bei Justizreformen zu beraten, darunter Slowenien von 2000 bis 2003 (s. JuS-Magazin 4/04, S. 24–26) und die Volksrepublik China im Jahr 2009 (in Zusammenarbeit mit Dr. Bollweg und Prof. Dr. Jansen).

Doukoffs Engagement in der juristischen Welt erstreckte sich auch auf zahlreiche Veröffentlichungen und Vorträge, u.a. zum deutschen Schadensersatz- und Zivilprozessrecht, ferner zum chinesischen, russischen und slowenischen Recht.

 

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