Grafik für das Drucken der Seite Abbildung von Haratischwili | Juja | 1. Auflage | 2010 | beck-shop.de

Haratischwili

Juja

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Buch. Hardcover

2010

300 S.

Verbrecher Verlag. ISBN 978-3-940426-48-2

Produktbeschreibung

Leseprobe:

 

Juja
(...)
Sie schritt durch die Rue de la Grande-Chaumière. Sie hatte kurze, nein lange Haare, dunkelbraun und spröde. Sie trug einen Männermantel und war blass, sehr blass. So musste sie sein. Zerbissene Lippen hatte sie und spitze, kleine Zähne. Sie war mager und hatte wundgeriebene Brustwarzen, die beim Gehen schmerzten. Sie schritt mit einer Stofftasche um die Schulter und offenen, wässrigen Augen, die stur vor sich hinschauten. Ihre Fingernägel – rosa und abgekaut. Die Nase spitz und errötet, vielleicht war sie erkältet und schlaflos. Sicher war sie das.
Sie blieb vor einem Schaufenster stehen, da stand eine Puppe in einem Hochzeitskleid. Sie blickte auf die Puppe, schaute ihr in die Augen und wollte sie erwürgen. Dann sah sie ihr Spiegelbild und schlug mit dem Gesicht gegen die Fensterscheibe, das Glas war stärker als sie, nichts passierte, nur ihre Nase begann zu bluten. Eine alte Dame hinter dem Fenster schrie kurz auf und sie rannte davon. Sie wischte mit dem Ärmel im Blut, verschmierte es am Kinn und dann ließ sie es sein.
Sie war 17. Sie hatte gerade den Eros entdeckt, der sie manchmal in ihrem Zimmer besuchte und mit ihr Schach spielte, ohne ein Wort mit ihr zu wechseln. Er war blond und winzig, warm und rosa, und sie mochte ihn.
Plötzlich musste sie lachen. Ihre Augen, grau und leer, lachten auf. Ja, die Augen … Sie müssten grau sein und sehr klar und irgendwie tot, doch schön und hässlich zugleich. So müssten sie sein.
Sie blieb kurz stehen, sie war schnell gelaufen und machte jetzt halt. Suchte in ihrer Tasche nach Tabak und fand ihn, drehte sich eine Zigarette und suchte ein Streichholz. Fand keins und fragte ein Mädchen danach, das an ihr vorbeiging. Das Mädchen schaute sie etwas erstaunt an, dann überlegte sie und sagte: „Moment.“ Sie wühlte in ihrer kleinen, grünen Damentasche und holte eine Streichholzschachtel hervor. Auf der Schachtel war ein Werbebild für ein Hotel irgendwo in der Provence.
„Sie haben Urlaub gemacht?“
„Wie bitte?“
„Diese Streichhölzer …“
Das Mädchen war hübsch. Sie hätte gern gewusst, ob das Mädchen mit einem Liebhaber oder noch mit ihren Eltern dagewesen war. Und außerdem schien sie Geld zu haben.
„Ach, ja, das ist aber lange her …“
Sie verzögerte das Spiel. Es machte Spaß. Aus dem Mädchen würde eines Tages eine schöne Dame werden mit einem Schoßhündchen und einer Garage mit automatischem Tor.
„Ich war noch nie in der Provence. Ist es schön dort?“
„Ja, sehr schön …“
Sie schien irritiert, aber nicht abgeneigt, also neugierig, also konnte es was werden. Bei solchen funktionierte der direkte Angriff am Besten.
„Hier in der Nähe ist die ‚Crèmerie’, ein nettes Lokal. Würdest du mir eine Tasse Kaffee und ein Stück Kuchen spendieren? Ich würde dir dann eine schöne Geschichte erzählen.“
Die junge Frau starrte sie erschrocken an. Jetzt schien sie das Blut zu bemerken.
„Ich … ich muss gehen … mein Bruder …“
„Du hast doch gar keinen Bruder. Ich erzähle dir eine schöne Geschichte. Ich bin nur hungrig.“
„Ich weiß nicht … was willst du?“
„Ich habe es dir doch gerade gesagt. Mehr will ich nicht.“
„Ich gebe dir Geld und …“
„Nein, ich will nicht, dass du mir Geld gibst. Nur Kaffee und Kuchen.“
„Ich …“
„Komm einfach mit …“
Das Mädchen folgte ihr tatsächlich. Sie versuchte, das getrocknete Blut wegzuwischen.
„Ich bin einfach gegen ein Fensterglas gelaufen, hab es nicht bemerkt …“, erklärte sie und lachte. Das Mädchen lächelte verwirrt. Sie gingen in die ‚Crèmerie’ und nahmen am Fenster Platz. Der Kellner erkannte sie, wollte etwas sagen, sie blickte ihn an, er sah das andere Mädchen und verstummte.
Sie bestellte einen Kaffee und ein Stück Walnusstorte. Das Mädchen studierte verlegen das Menü.
„Ich empfehle dir eine heiße Schokolade und ein Croissant mit Pfirsichfüllung, hier schmecken die Dinger himmlisch.“
Das Mädchen bestellte das Empfohlene. Sie schwieg und versuchte sie nicht anzuschauen, dann nahm sie ein Zigarettenetui aus der grünen Tasche und steckte sich eine lange Zigarette zwischen die apricot geschminkten Lippen.
Sie streifte das Streichholz am Schachtelrand, spürte kurz die Flamme an ihrer Fingerkuppe, genoss den Duft und zündete ihr schließlich die Zigarette an.
„Ich heiße Saré. Und du?“
„Fanny.“
„Danke für die Einladung.“
„Ja …“
„Ich erzähl dir jetzt eine Geschichte.“
Sie begann von Niobe zu sprechen. Von ihren sieben Kindern und von ihrem Ruhm und Reichtum und ihrem Stolz und dass sie den Göttern nicht die Opfer brachte und damit die Leto entzürnte, die das Unheil über ihre Familie schickte und ihre Söhne töten ließ durch Apollon und Artemis, wie Niobe trotzdem stolz blieb und wie sie vor ihren Augen ihren Mann und die Töchter vernichtete und wie Niobe erstarrte in ihrem Schmerz und um Gnade bat und wie sie schließlich zum Stein wurde, der nicht aufhörte zu weinen. Fanny hörte ihr gebannt zu. Natürlich.
„Du kanntest die Geschichte nicht, stimmt’s?“
„Ich kannte sie nicht, nein.“
„Und so steht sie da, auf einem Berg, die zum Stein gewordene Königin und nichts kann sie wieder zum Leben erwecken.“
„Es ist traurig.“
„Ja, das auch.“
„Ich muss gehen.“
„Ich komme mit dir raus. Ich bin satt.“
„Warum machst du das?“
„Was?“
„Na ja. Das Ganze … erst mit der Geschichte und …“
Fanny starrte sie an. Ihre Augen – verwüstet und feurig. Sie mochte sie. Und sie wußte es. Sie gingen zusammen raus.
„Warst du mit deinem Liebhaber in der Provence?“
„Wie bitte?“
„Dein Urlaub?“
„Hm … er ist mein Verlobter.“
Fanny hatte schöne, blaue Augen und einen Schmollmund. Man hätte ihr Gedichte schreiben müssen … Ihr Verlobter schien Mist gebaut zu haben, das spürte sie. Denn Fannys Augen leuchtete nicht mehr, wenn sie das Wort Verlobter sagte.
„Du hast noch ein bisschen Blut unter der Nase.“
„Mach es weg. Bitte.“
Fanny war etwas größer als sie, sie beugte sich über sie und holte ein Taschentuch, weiß und bestickt, aus der Tasche ihres Mantels und versuchte das Blut wegzuwischen, aber das Blut war trocken, fest und Jahrhunderte alt.
„Du musst das Tuch mit deinem Speichel befeuchten.“
Sie näherte ihr Gesicht Fannys Gesicht und wartete. Fannys Blick – scheu. Aber dann presste sie ihre Lippen auf Fannys Lippen, und Fanny, überrumpelt und verängstigt, streckte impulsiv die Zunge raus und leckte ihr das Blut weg. Dann wandte sich Fanny ab und ging mit schnellen Schritten davon, erschrocken über die eigene Tat.
Sie schritt die Rue de la Grande-Chaumière entlang und blieb vor dem Schaufenster mit der Puppe stehen. Sie warf sich gegen das Glas, doch es passierte nichts. Sie schlug mit ihrer Tasche dagegen, es passierte trotzdem nichts.
„Ich verfluche dich! Ich hasse dich, du lebloses Miststück!“, schrie sie und dann … dann starb die Puppe und die ganze Straße verstummte, während die Wüste heimlich haydnsche Lieder sang. Bald würde sie zurück können …
Und der Traum eines Traums wurde wach und streichelte ihre Knöchel und leckte ihre Schläfen, sie wusste, es würde einmal vorbei sein …
Sie hatte jetzt eine andere Frau eingeweiht und fühlte sich gut. Sie schritt weiter …
(...)

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