Kommt das Ende der Papierakte und wenn ja wann? Fragen an Dr. Thomas Degen

Guten Tag Herr Dr. Degen! Wir freuen uns, dass Sie uns für ein Interview für unseren Blog Kanzleiforum zur Verfügung stehen. Gerade erschienen ist Ihr Werk „Elektronischer Rechtsverkehr“, das sich intensiv mit den Neuerungen im elektronischen Rechtsverkehr auseinander setzt. Kommen wir gleich zu unserer ersten Frage:

 

Was bedeutet der digitale Wandel für eine Anwaltskanzlei im allgemeinen und im Hinblick auf erweitere Haftungsrisiken im besonderen?

Mehr IT, mehr Datenschutz, mehr Management, mehr Controlling! Die digitale Transformation bedeutet nicht nur für die Wirtschaft, sondern auch für Anwaltschaft, Justiz und Verwaltung einen Umbruch tradierter Prozesse und Marktlogiken. Während in der Industrie die Produktion längst vernetzt läuft, vor einem Stillstand von Maschinen und Wertschöpfungsketten die Software informiert, folgen Veränderungsprozesse bei Legislative, Exekutive, Judikative nicht so dynamisch. Das Plädieren erfolgt weiter analog, Videokonferenzen müssen noch getestet werden; die Klageeinreichung funktioniert bald aber nur noch elektronisch. Von den klassischen juristischen Arbeitsabläufen bleibt noch die saubere Kopfarbeit und rechtliche Subsumtion sowie die Abstimmung der strategischen Handlungsoptionen mit dem Mandanten. Der Rest wird digitalisiert. Haftungsrisiken nehmen zu. Folglich muss man sich mehr mit der „digitalen Welt“ befassen und damit, wie diese funktioniert, etwa die „E-Akte“, die sichere und formwirksame Übertragung von bestimmenden elektronischen Dokumenten zu Gericht.

 

Welche Vorteile hat die fortschreitende Digitalisierung für Kanzleien?

Bei der Klagezustellung, erst recht beim elektronischen Schutzschriftenregister, kann man mit wenigen Mausklicks einen riesigen Empfängerkreis bedienen. Je nach Größe, Couleur und Organisationsgrad wird ein Plus an Effektivität und Knowledge-Management zu Buche schlagen. Ob Einzelkanzlei oder Law firm – wer sagt denn, dass man nicht besser werden kann? Die Digitalisierung kann Kanzleien auf neue Ebenen heben. Es geht um den Wert der Daten und deren leichtere Verfügbarkeit. Die tolle Vertragsklausel des Kollegen, das super Schriftsatzmuster – nur wo? Die bisherige Aktenordnung wird revolutioniert. Papier- und Hybridakten werden ersetzt durch echte E-Akten und neue Dokumenten-Management-Systeme. Mittelfristig wird ein Mehraufwand an Administration und IT-Investitionen durch mehr Freizeit und Umsatz überkompensiert.

 

Welche konkreten Änderungen, vor allem auch technischer Art, und Investitionen kommen auf Kanzleien in den nächsten Jahren aufgrund der Neuregelungen zum elektronischen Rechtsverkehr zu?

Der Füller wird ersetzt durch das Touchpad. Das Fax wird neben Signaturkarte und Lesegerät aber bleiben. Investitionen in neue Kanzleisoftware und eine Überprüfung des etablierten Fristenkalenders stehen an. Jede Kanzlei hat zu überblicken, ob jeder Anwalt das digitale „beA-Cockpit“ bedienen kann. Die Kollegen, die sagen „Ich bin Pablo Picasso der deutschen Anwaltschaft – ein Pinsel reicht mir“, werden museumsreif. Die beA-Postfächer und Signaturkarten von Anwälten und Mitarbeitern müssen verwaltet werden. Der Computer wird den berufsrechtlichen Vertreter nicht ersetzen. Spannend wird es auch bei der außergerichtlichen elektronischen Kommunikation der Zukunft! Der ERV wird IT-Trends befördern in Richtung sichere Anwalts-Cloud, Home & mobile Office, Legal Tech. Das Moderne muss passen, berufs-, datenschutz- und versicherungsrechtlich stabil sein.

 

Warum wird es zum nächsten Jahreswechsel 2022 richtig ernst für alle Papiertraditionalisten?

Ab dem 01.01.2022 werden Papierklagen formunwirksam. Praktisch alle Gerichtskorrespondenz hat dann kraft Anwenderpflicht über das beA zu laufen, außer beA oder Internet streiken. Bei der Berufsuniform wird es aber bei Robe, Längs- und Querbindern bleiben.

 

Meinen Sie, dass das beA bis dahin fit genug ist, um den Anforderungen zu genügen?

Es wird reichen für einen eindimensionalen digitalen Postverteiler. Für den ERV der Zukunft stellen wir uns Innovativeres vor.

 

Wie sieht es konkret bei den kritischen Themen Datenschutz und IT-Sicherheit aus?

Wenn die Politik meint, dass beA sei sicher genug, heißt das nicht, dass alle Fragen beantwortet wären. Mit meinem Mitautor und Kollegen Ulrich Emmert spreche ich mich für mehr Transparenz aus. Es ist erschreckend, welche schwerwiegenden Mängel bei dem beA-System schon entdeckt wurden. Generell sehen wir den Datenschutz und die IT-Sicherheit als zentrale TOP-Themen für unseren Wirtschaftsstandort. Hier sollten Justiz, Kammerverwaltung und Anwaltschaft mit der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Realität mehr Schritt halten. Bei IT-Projekten spielt die Verwaltung in Deutschland im internationalen Vergleich leider nicht in der Champions League. Themen, die alle betreffen, sind die Cloud und die Verschlüsselung elektronischer Kommunikation. Bekanntlich stockt es hier; Unternehmen verlangen Usability und der Staat Kontrollbefugnisse.

 

Inwiefern nutzt Ihr Ratgeber auch kleinen und mittleren Kanzleien, die sich keine ausgefeilten Techniken leisten können, sei es aus Zeit oder aus Geldmangel?

Neuerungen bei Technik, Beweisrecht, ersetzenden Scannen, revisionssichere Langzeitarchivierung behandeln wir kompakt. Eine sichere IT muss keine Monstranz sein. Wir behandeln Einstellungsoptionen wie zu PDF/A, zu BSI-Verfahren und Fälle zur Haftungsvermeidung. Beim ERV sagen wir: Dieser ist gut, aber die Umsetzung durch die Player ist suboptimal. Ansonsten wollen wir zum Nachdenken anregen. Warum sieht die BRAK nicht, dass die Kritiker im Grunde die Befürworter sind? Wenn man beim beA einen „Bug“ findet und diesen der BRAK meldet, wird der schwarze Peter an die neue Support-GbR weitergereicht. Man soll ein „Ticket“ schreiben, nachdem man eine schriftliche Fehlerbeschreibung hereingereicht hat, etwa zur praxisrelevanten Funktion der automatischen Benachrichtigung. Das verwundert schon.

 

Welchen Fehler sollten Kanzleien im Bereich Digitalisierung unbedingt vermeiden?

Einerseits den Überblick über Office und Kosten zu verlieren oder andererseits den Workflow aus Zeit- und Kostengründen abzukürzen. Mit der Digitalisierung stehen wir erst am Anfang. Unsere altpreußischen Verfahrens- und Berufsordnungen sind noch nicht zukunftssicher und sachadäquat transformiert. Anwaltschaft und Justiz sollten nicht stehen bleiben und die technologisch sportlichen Länder davonziehen zu lassen. Man sollte jedoch auch nicht den Fehler machen, die Authentizität über Bord zu werfen, nur weil jetzt Berufsvertreter und Softwarefirmen mit Tech-Buzzwords um sich werfen. Es gibt verfassungsimmanente Begrenzungsfaktoren: Auch wenn sich Kanzleien über den Erfolg für Ihre Mandanten, Image und Reputation definieren – die Unterstützung der rechtsuchenden Gesellschaft bei der Verteidigung von Freiheitsrechten und sonstigen Rechtspositionen darf altruistisch sein und dem digitalen Optimierungsstreben zuwiderlaufen. Anwälte sind Organe der Rechtspflege. Sie müssen für das Gemeinwohl da sein, digital wie analog. Was bei Ärzten gilt, trifft auch für Anwälte zu: Telemedizin ist ein Zugangsplus, macht allein aber nicht gesund.

 

Gibt es vielleicht Best Practice Beispiele? Haben Sie konkrete Tipps zur Umsetzung, um sich fit zu machen?

Sofern es dazu noch nicht gekommen sein sollte: 1. Richten Sie sich das beA ein und versenden Sie eine Klage oder Berufungsschrift nebst Anlagen einmal selbst, bevor Sie delegieren. Dank BRAK haben wir farbige Screenshots als Kurzanleitung im Buch, auf die verwiesen sei. 2. Tauschen Sie sich mit Ihren Kollegen und Kanzleimitarbeitern aus. 3. Halten Sie den Dialog mit der Wirtschaft und Ihren Mandanten. Es geht schließlich primär um deren rechtliche Interessen.

Wir danken Ihnen für das Gespräch.

 

Degen / Emmert

Elektronischer Rechtsverkehr

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